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Datum:

Samstag, 18 Juni 2022

Autor:

Sven Märki

Der Fall Vincenz – Ein Urteil mit Signalwirkung für KMU?

Das Urteil im Fall Pierin Vincenz

Am 13. April 2022 ging die erste Etappe des grössten Schweizer Wirtschaftsstrafprozesses der jüngsten Geschichte zu Ende. Die Hauptbeschuldigten wurden erstinstanzlich zu mehrjährigen Freiheits- und Geldstrafen verurteilt.

Obwohl bereits absehbar ist, dass sich vermutlich auch das Bundesgericht noch mit der Sache befassen wird und das Urteil des Bezirksgerichts Zürich damit weder rechtskräftig noch abschliessend ist, könnte das Urteil einen Paradigmen- und Wertewechsel einleiten.

Was also bedeutet das selbst unter Juristen unerwartet harte Urteil im Fall Vincenz für KMU und ihre Unternehmensleitung? Werden künftig auch KMU mit einer verschärften straf- und zivilrechtlichen Verantwortung ähnlich wie bei börsenkotierten Unternehmen konfrontiert sein?

Antworten wird wohl erst in einigen Jahren das Bundesgericht liefern. Bis dahin werfen wir hier ein Schlaglicht auf drei rechtliche Problemfelder, die nicht neu sind und früher schon zivilrechtliche Schadenersatzansprüche nach sich ziehen konnten und welche künftig vielleicht auch vermehrt zu Geld- oder sogar Freiheitsstrafen führen können: Interessenkonflikte, Retrozessionen und Spesen.

Was ist ein Interessenkonflikt?

 

Wer fremde Interessen wahren soll, darf diese weder mit seinen eigenen noch mit Interessen von Dritten vermischen.

Die angestellte Geschäftsführerin oder die mandatierte Verwaltungsrätin haben je die Interessen ihrer Arbeitgeberin resp. ihrer Auftraggeberin zu wahren. Muss die Geschäftsführerin über die Entlassung ihres bei derselben Gesellschaft angestellten Ehemannes entscheiden oder einen Auftrag vergeben, wobei eine der Bewerberinnen die Geschäftsführerin immer wieder als VIP zu Fussballspielen einlädt, können dadurch ihre Interessen mit denjenigen der Gesellschaft kollidieren.

Im Fall Vincenz besteht gemäss Medienberichten ein Vorwurf darin, dass zwei Beschuldigte bei einem Unternehmenskauf gleichzeitig auf beiden Seiten des Verhandlungstisches gesessen haben sollen – als CEOs auf Seite der Käuferin (Raiffeisen / Aduno) und als privat beteiligte Aktionäre auf Seite der Verkäuferin.

Wieso kann ein Interessenkonflikt problematisch sein?

Nicht jeder Interessenkonflikt zieht rechtliche Konsequenzen nach sich. Im Einzelfall kommt es auf alle Umstände und die Intensität des Konflikts an. Je nachdem können Interessenkonflikte zivilrechtliche oder strafrechtliche Folgen haben.

Zivilrechtlich können Beschlüsse oder Rechtsgeschäfte, die in einem Interessenkonflikt zustande gekommen sind, unwirksam sein (z.B. bei der Selbstkontrahierung oder Doppel-/Mehrfachvertretung). Zudem kann die im Interessenkonflikt befindliche Person haftbar und schadenersatzpflichtig werden, sofern denn ein beziffer- und beweisbarer Schaden eingetreten ist.

Strafrechtlich hängt die Messlatte höher: Ein Interessenkonflikt ist für sich allein noch keine Straftat, denn das Strafrecht verlangt neben einer nachgewiesenen Schuld regelmässig weitere Tatbestandselemente wie z.B. Arglist, Bereicherungsabsicht oder Vermögensschädigung etc. Je nach Umständen und Intensität können aber Straftatbestände wie z.B. Betrug, Urkundsdelikte, ungetreue Geschäftsbesorgung oder Privatbestechung erfüllt sein. Bisher war hier die Rechtsprechung eher zurückhaltend und in den grossen Wirtschaftsstrafprozessen wie z.B. nach dem Swissair-Grounding erfolgten jeweils Freisprüche. Vor diesem Hintergrund wirken denn auch die Schuldsprüche im Fall Vincenz eher streng.

Wie ist mit Interessenkonflikten umzugehen?

Durch Transparenz. Wer sich in einem möglichen Interessenkonflikt befindet, hat das von sich aus im Vornherein offenzulegen. Im Aktienrecht wird diese Offenlegungspflicht ab dem 1. Januar 2023 neu ausdrücklich im Gesetz vorgeschrieben (Art. 717a OR).

Transparenz und Offenheit reichen aber für sich allein noch nicht aus, denn dass ein Konflikt offengelegt worden ist, muss je nachdem Jahre später noch beweisbar sein. Deshalb führt kein Weg an einer standardisierten Protokollführung vorbei, wie dies ohnehin für Sitzungen und die Beschlussfassung von Geschäftsleitung oder Verwaltungsrat etc. teilweise auch gesetzlich vorgeschrieben und im Hinblick auf die möglichen Rechtsfolgen empfehlenswert ist. Wurde ein Interessenkonflikt offengelegt, ist ebenfalls zu dokumentieren, aus welchen Gründen welche Massnahmen getroffen worden sind. So kann z.B. die betroffene Person ganz oder nur teilweise für die Beschlussfassung in den Ausstand treten, bei dauernden Interessenkonflikten ihr Amt niederlegen oder es ist auf einen Ausschuss oder auf externe Sachwalter etc. zurückzugreifen.

Bei alledem können sich Unternehmen an der sogenannten «business judgement rule» orientieren, nach der das Bundesgericht jeweils zuerst beurteilt, ob Entscheide korrekt zustande gekommen sind. Kam der Entscheid korrekt zustande, prüft ihn das Gericht inhaltlich zurückhaltend. Sind beim Zustandekommen aber Fehler passiert, schaut das Gericht genauer hin. Je grösser also das Risiko, desto wichtiger ist es, nachweisen zu können, dass der Entscheid korrekt zustande gekommen ist.

Was sind Retrozessionen?

Erfüllt ein Dienstleister den Auftrag seines Kunden, indem er dazu Produkte oder Leistungen eines Dritten nutzt, wofür er vom Dritten Entgelte (meist Provisionen) erhält, spricht man von Retrozessionen.

Das klassische Beispiel ist der Vermögensverwalter, welcher die Gelder seines Kunden bei einer Bank anlegt und dafür von der Bank die so generierten Gebühren (Kommissionen, Depotgebühren etc.) weitergeleitet erhält.

 

Wieso können Retrozessionen problematisch sein?

Gemäss Gesetz hat der Beauftragte alles, was ihm infolge des Auftrags aus irgendeinem Grund zugekommen ist, dem Auftraggeber zu erstatten. Diese Ablieferungspflicht betrifft nicht nur diejenigen Vermögenswerte, die der Beauftragte direkt vom Auftraggeber zur Erfüllung des Auftrags erhält, sondern auch indirekte Vorteile, die dem Beauftragten infolge der Auftragsausführung von Dritten zukommen.

Gestützt darauf verlangt das Bundesgericht, dass Auftragnehmer ihren Auftraggebern vereinnahmte Retrozessionen herausgeben müssen, falls die Auftraggeber nicht rechtsgültig darauf verzichtet haben. Der Herausgabeanspruch des Kunden unterliegt der 10-jährigen Verjährungsfrist.

Das Bundesgericht untermauert die Herausgabepflicht zusätzlich mit dem Interessenkonflikt, in der sich ein Auftragnehmer befinden kann, wenn er von Dritten Retrozessionen und damit eine weitere Vergütung für seine Tätigkeit erhält.

Verschweigt der Auftragnehmer Retrozessionen, kann er damit allenfalls auch den Straftatbestand der ungetreuen Geschäftsbesorgung erfüllen und mit Geld- oder Freiheitsstrafe bestraft werden.

Das Risiko für KMU liegt bei alledem in der sich entwickelnden Rechtsprechung, welche den Anwendungsbereich der Retrozessionen in den letzten Jahren über die Vermögensverwaltung hinaus ausgedehnt hat.

So hat offenbar auch die Staatsanwaltschaft im Fall Vincenz die Rechtsprechung zu den Retrozessionen herangezogen, um darüber einfacher einen Schaden und ein strafbares Verhalten nachweisen zu können.

Ob und wieweit dem das Bezirksgericht Zürich gefolgt ist und ob das Schule machen wird, muss sich zeigen. Fest steht, dass KMU, Unternehmer und Berater, die bei Ihrer Tätigkeit für Kunden Provisionen von Dritten erhalten, prüfen sollten, ob Retrozessionen vorliegen könnten und ob die Verträge mit ihren Kunden dem hinreichend Rechnung tragen.

Wie können Retrozessionen rechtskonform ausgestaltet werden?

In Konstellationen, in denen Retrozessionen vorliegen können, empfiehlt sich durch vertragliche Abmachungen Klarheit über alle Zahlungsflüsse zu schaffen und wem sie zustehen.

Gemäss Bundesgericht kann der Kunde im Voraus gültig auf Retrozessionen verzichten, sofern er vor Vertragsschluss umfassend aufgeklärt worden ist und die Parameter kennt, die zur Berechnung der Retrozessionen notwendig sind. Dazu muss der Kunde zumindest die Eckwerte der bestehenden Retrozessionsvereinbarungen mit Dritten sowie die Grössenordnung der zu erwartenden Rückvergütungen kennen. Dafür kann ausreichen, wenn die Höhe der erwarteten Rückvergütungen in einer Prozentbandbreite der massgeblichen Bezugsgrösse (z.B. verwaltetes Vermögen) angegeben wird. Um den gültigen Vorausverzicht des Kunden beweisen zu können, drängt sich eine schriftliche Regelung auf.

Alternativ kann der Beauftragte auch die Retrozessionen dem Kunden von Anfang an weiterleiten und für seine Arbeit ein entsprechendes Honorar vereinbaren. Denkbar ist dabei allenfalls auch, dass der Beauftragte die Retrozessionen für den Kunden laufend entgegennimmt und mit seinem Honoraranspruch verrechnet, sofern das vertraglich vereinbart ist und gegenseitig sauber abgerechnet wird.

Was sind Spesen?

Spesen sind Auslagen, welche einem Dienstleister (Arbeit-, Auftragnehmer etc.) in Ausübung seiner Tätigkeit für den Arbeit-/Auftraggeber anfallen. Begründete und belegte Spesen sind vom Arbeit-/Auftraggeber zu erstatten.

Wieso können Spesen problematisch sein?

Spesen sind als Auslagenersatz grundsätzlich steuer- und sozialabgabenfrei und wirken Gewinnmindernd – sie sind damit für Unternehmen und Arbeit-/Auftragnehmer interessant.

Echte Spesen liegen aber nur dann vor, wenn sie in Erfüllung der jeweiligen Tätigkeit für den Arbeit-/Auftraggeber entstanden sind. Es ist also abzugrenzen, was geschäftsmässig begründet ist (=Spesen) und was nicht (=keine Spesen).

Die Abgrenzung ist nicht immer einfach und kann dazu führen, dass zu viel oder zu Unrecht bezogene Spesen zurückzuerstatten sind oder dass zu wenig bezahlte Spesen (z.B. bei einer zu tief angesetzten Pauschale) nachzubezahlen sind.

Strafrechtlich können im Zusammenhang mit Spesen Urkundsdelikte (gefälschte Belege), Betrug (arglistige Täuschung) oder auch Veruntreuung oder ungetreue Geschäftsführung (wenn der Arbeit-/Auftragnehmer die Spesenauszahlung selbst auslösen kann) im Raum stehen. Meist ist aber bei Spesen schon aus praktischen Gründen eine Kontrollfunktion vorgesehen, weil die Arbeit-/Auftraggeberin die Spesenforderungen zumindest summarisch prüft, bevor sie die Zahlung auslöst. Damit entfallen oft die für eine strafrechtliche Verurteilung nötigen Tatbestandselemente wie Arglist etc.

So hat offenbar auch bei der Raiffeisen der Verwaltungsrat die von Pierin Vincenz geltend gemachten Spesenbelege prüfen können. Dass dennoch eine Verurteilung resultiert hat, mag angesichts von Auslandreisen mit Freunden und Familien und «Tour de Suisse durch das Rotlichtmilieu» moralisch richtig sein, juristisch dürfte aber auch das eine Verschärfung der bisher angewandten Massstäbe bedeuten.

Wie lassen sich Spesen regeln?

Auch bei den Spesen anerbietet sich eine möglichst klare und umfassende, auf das jeweilige Vertragsverhältnis und Unternehmen zugeschnittene Regelung – in einem Spesenreglement für die Arbeitnehmenden (inklusive Kader und Geschäftsleitung) und in einem Organisationsreglement für die Verwaltungsräte.

Ein Spesenreglement bietet zudem den Vorteil, dass es von der kantonalen Steuerbehörde genehmigt werden kann und damit auch in steuerlicher Hinsicht Rechtssicherheit schafft.

Ein Reglement für sich allein reicht indes noch nicht, es muss im täglichen Geschäftsleben denn auch konsequent gelebt werden, was besonders für die Kontrolle gilt, welche alle Parteien schützt; die Arbeit-/Auftragnehmerin vor Strafverfolgung und Schadenersatzansprüchen und Unternehmen vor «Spesenbetrug».

 

Ob der Fall Vincenz zu einer Verschärfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Unternehmensführung in KMU führen wird, lässt sich heute noch nicht sagen.

Dennoch ist es gerade auch für KMU angesichts der sich verändernden Umstände sinnvoll, die Organisationsstrukturen periodisch zu überprüfen und bestehende Reglemente ebenso wie die im täglichen Geschäftsbetrieb eingesetzten Verträge zu überarbeiten oder neu zu verfassen und der sich stets ändernden Risikolage anzupassen.

Das gilt auch für inhabergeführte KMU und Einmannaktiengesellschaften, denn dort sind «Insichgeschäfte» besonders häufig und spätestens, wenn dereinst die Unternehmensnachfolge ansteht und zum ersten Mal andere Personen am Unternehmen beteiligt sind, ist eine durchdachte, gut abgestützte und konsequent gelebte Organisationsstruktur von unschätzbarem Wert.

Wir unterstützen Sie gerne mit pragmatischen Lösungen dabei, Ihre Organisation zu prüfen und zu verbessern, Ihre Verträge zu aktualisieren oder Spesenreglemente zu erstellen und genehmigen zu lassen und dergleichen mehr.

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